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Leseprobe: Berliner Notizen. Dokumente der Erinnerung Ich fahre nach Berlin; es ist nicht zum erstenmal nach dem Krieg. Doch es ist zum erstenmal nach der Errichtung der Mauer. Der M A U E R - Ich schreibe dieses Wort nieder und erschrecke davor. Es ist seit dem 13. August des vorigen Jahres nicht mehr nur ein beliebiges Wort unserer Sprache. Es hat uns aus unserer Ruhe aufgeschreckt. Wochen und Monate zitterten wir in schlaflosen Nächten unter seinem wachsenden Gewicht. Wie sahen die Bedrohungen unserer Welt dahinter aufziehen. Groß wie ein Menetekel in den dunklen Hintergrund unseres Jahrhunderts geschrieben, dröhnt dieses Wort von Schicksal, von einer Unsumme von Schicksalen: in ihm dröhnen die Gewichte unserer unverständigten Welt gegeneinander. Ich schäme mich beinahe, es niederzuschreiben: Ich fahre nach Berlin, um die Mauer zu sehen. Ich glaube, sie zwar schon zu kennen: Presse, Wochenschau und Fernsehen haben sie uns gezeigt. Die Mauer ist eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges geworden. Ich werde - wie Hunderttausende andere - vor ihr stehen, kopfschüttelnd und von Unbegreiflichem, Nie-für-möglich-Gehaltenem reden. Wird das alles sein? Wahrscheinlich. Trotzdem fahre ich. Wie war es damals, vor sechs Jahren, als ich zum erstenmal nach Kriegsende nach Berlin fuhr? Ich reiste mit dem Nachtzug von München in einem überfüllten Liegewagen des Interzonenzuges und konnte nicht schlafen. Nicht nur, daß uns die Kontrollen immer wieder aufstörten, auch die Mitreisenden hörten nicht auf, miteinander zu tuscheln, miteinander zu beratschlagen. Ein alter Mann, der seine Tochter in Jena besuchen will, bangt vor Schwierigkeiten. Jedermann sucht Rat bei jedermann: "Ich habe fünfzig Zigaretten mit. Werde ich sie durchbringen?" - "Mein Mann ist ´49 aus der Zone geflüchtet. Ob sie mich deshalb verhaften werden?" Und immer wieder Warnungen: "Haben Sie wohl keine Zeitung bei sich?" Ich bin Ausländerin und darf mich als solche etwas sicherer fühlen. Noch habe ich kein Visum. Ich kann es im Zug erwerben, es kostet zehn Mark. Ich reiche dem Volkspolizisten einen Fünfzig-Mark-Schein. Er gibt heraus, ich stecke die Banknoten unbesehen ein. Kaum hat der Mann die Tür des Abteils hinter sich zugezogen, umschwirren mich die Fragen der Mitreisenden: "Hat er Ihnen auch richtig herausgegeben?" "Hat er Ihnen nicht etwa Ostmark angedreht? Sehen Sie doch nach!" Hastig öffne ich meine Börse. Nein, es stimmt! Da stecken zwei Zwanziger West. "Da seien Sie aber froh! Da haben Sie Glück gehabt! Ein andermal sehen Sie sich vor: Die Kerle sind zu allem imstande." Ich wundere mich über soviel Mißtrauen. Eine neue Erfahrung. Sie zeigt an, wie der Übertritt hier empfunden wird: als Schritt in eine bedrohliche Welt. Die Nacht rückt vor. Nach langem Halt fährt der Zug weiter. Kein Licht. Nirgendwo ein Licht, als führen wir durch unbesiedeltes Land. Endlich döse ich ein. Ein neuerliches Anhalten schreckt mich auf. Wo sind wir? So leise ich kann, lasse ich das Fenster herunter. Ein öder Bahnsteig, über dem zwei gelbliche Lampen im Winde schaukeln. Im Finstern läßt sich der zerstörte Bahnhof erraten, Ruinenwände und das verbogene Stahlgestänge eines noch immer zerscherbten Glasdachs. "Das ist wohl Halle", sagt jemand. Irgendwo jenseits der leeren Geleise schreit eine Frauenstimme immer wieder dasselbe Wort, es klingt böse, hysterisch, ein Befehl, dem niemand nachzukommen scheint, und der deshalb immer wütender wiederholt wird, vollhals plärrend, die Megärenstimme einer Übernächtigen im Dienst. Am Morgen Ankunft in Westberlin. Anderntags in den Ostsektor. Ich steige Bahnhof Friedrichstraße aus. Nach dem Betrieb am Westkreuz (aufgeheizte Kaufhausemsigkeit) schlägt mir hier ein anderes Klima entgegen: schematisierte Leere, mit Spruchbändern und Uniformen garniert. Auch hier sind Ruinen abgetragen, ausgebrannte Häuser wieder instand gesetzt worden. Aber - warum sehen sie denn alle so eisig aus? Warum fegt hier der Wind so viel kälter, als hätte er sich nicht an Rauchkaminen und Menschenatem erwärmen können? Auch drüben liegen die Straßen zu breit aus für den Verkehr, der sich auf ihnen bewegt; auch drüben schlagen Programm und Plan im Wiederaufbau deutlich vor, und ein wenig gleicht auch dieses Westberlin einem Menschen in zu weiten Kleidern: er muß erst hineinwachsen. Dennoch ist Pulsschlag zu spüren, das Spiel vielfacher Kräfte zwischen Punkt und Punkt, Initiative und freiem Austausch, von dem sich denken läßt: er wird das geräumige Koordinatennetz der ehemaligen Weltstadt allmählich ausfüllen. Hier im Osten ist es anders: bedrückend. Und der Wind fegt immer kälter, dieser feindselige Wind, der aus sehr großer Weite zu kommen scheint. Er ist - wie Steppenwind. "Unter den Linden" faßt er mich mit voller Gewalt. Diese Straße - ich habe sie oft gesehen. Ich erkenne sie nicht mehr. Diese Hauptstraße einer Metropole, rangierte sie nicht hinter den Champs-Élysées, neben dem Ring in Wien? Jetzt ist sie leer und verödet, erschreckend leer, wie ausgefegt. Lücken klaffen an beiden Seiten. Aber daran liegt es nicht. Ihre Bäume sind verschwunden oder verstümmelt. Aber daran liegt es nicht. Ihre Denkmäler gestürzt, das Brandenburger Tor steht noch schwer zerklüftet von Bombenschäden. Auch daran liegt es nicht. Oder doch? Siehe da, die Universität ist neu aufgebaut, sauber und mit Geschmack restauriert; auch das Zeughaus, auch Schinkels Wache. Doch sie stehen da wie verwaist, abgestellt und vergessen, der Geist ist ausgezogen, der, der sie schuf, und hat einem anderen Platz gemacht. Sein Atem: Steppenwind. Er hat die Menschenströme versickern lassen, die sich hier bewegten. Er hat die Fahrbahnen leergeblasen. Er klirrt trostlos im kahlen Geäst der Bäume. Er hat sich auch hinter den Scheiben der wenigen Schaufenster eingenistet und zeigt sich in einem Angebot, bei dem auch der bescheidenste Anspruch auf Schönheit, Anmut, Annehmlichkeit ausgeklammert ist. Zeichen der Armut? Auch. Aber Armut hat mich nie erschreckt. Ich hatte sehr wenig davon, daß Menschenwürde und -glück nur im Luxus und zwischen erlesenen Dingen gedeihen. Aber was hier ausliegt - ob Bücher und Musikalien, Kleider oder Geschirr -, ist so trostlos häßlich, so konsequent erbärmlich, daß ich es nur als Chiffre ablesen kann einer einzigen langen Lektion, die hier erteilt wird, einer endlosen Absage an das, was Europa ist und war oder wieder werden möchte: freundliches Menschenland. Das war es doch auch hier, ehe die nationale Hybris ausbrach - und dann - der Steppenwind. Ich verstehe: Was sich nicht umdeuten läßt zum Requisit des neuen Systems - wie Zeughaus, Universität und Wache - wird abgebaut. Das Reichspräsidentenpalais in der Wilhelmstraße hockt, ein borkiger Rest, hinter seinen Gittern. Auch noch in diesem Zustand spricht die Noblesse seiner Grundmaße; doch es ist zum Totalabbruch bestimmt. Das Schlütersche Schloß (o Preußens Gloria!) ist ausradiert. Obgleich es nach zahlreichen Bombentreffern leicht zu retten gewesen wäre - es wurde gesprengt; der Blick gegen Osten aufgerissen, der Horizont freigelegt, eine breite Schneise geschlagen, durch die der Steppenwind ungehindert einfallen kann. Anstelle des Königsschlosses eine Tribüne, flaches, graues Geschiebe aus Bohlen, Brettern, Latten, die Ehrenplätze in der Mitte rot dekoriert. Darüber ein hundert Meter langes Transparent: "Wir danken den Völkern der Sowjetunion für ihre Hilfe beim Wiederaufbau der DDR." Da siehst du es, dacht ich, hier siehst du es ganz genau; mach die Augen auf und halte still. Hier siehst du die deutsche Niederlage in ihrer geballten Hoffnungslosigkeit. Jetzt weißt du, warum hier der Steppenwind weht, der Sandwind, der Landwind aus dem eurasischen Raum, Atem der Fremde, des ungeheuren Asien, gegen das bunte, schöne, vielgestaltige, meerumschlungene Gartenland Europa. Hier ist die Trauer eingebrochen, die dort über Tundren und Taigen liegt. Die deutsche Hybris hat es zustande gebracht, daß Asien in die Mitte des Erdteils vorgedrungen ist, weiter vorgedrungen, als es je hoffen durfte, vorzudringen. Nun ist es da und hält mit seinem ganzen Gewicht fest, was anderswo, bei uns im glitzernden Westen, an allen Ecken weggelogen wird: daß Deutschland aufgehört hat zu sein. So verlief mein Besuch in Berlin vor sechs Jahren. Noch war die Mauer nicht errichtet worden. Nun - Februar ´62. Wieder fahre ich mit dem Zug durch die "Zone". Der Flug wäre angenehmer als die lange Bahnfahrt. Aber ich will sehen: So wenig sich aus einem Waggonfenster wahrnehmen läßt, es ist immer noch mehr als aus der Luke eines Flugzeugs. Wer nach Berlin fliegt, besteigt die Maschine in einer westdeutschen Stadt und verläßt sie nach einer Stunde auf dem Westberliner Flughafen. Er unterliegt der Illusion eines leicht vollziehbaren Zugangs zur Inselstadt. Er bringt sich um die Erfahrung, wie breit der trennende Gürtel um die Insel gezogen ist. Schon längst, ehe die Grenze der DDR erreicht ist, ist der Landschaft anzumerken, daß wir uns einer Bruchlinie nähern. Die Straßen sind weniger befahren als weiter westlich. Die Städte sind später und karger neu aufgebaut worden. Ihnen fehlt das Hinterland. Jede Entwicklung geht zögernd vor sich, weil ja nur von einer Seite Belebung kommt. Wo hab ich´s nur neulich gelesen? - Bei uns in Österreich ist es dasselbe. Die Bezirke, die unmittelbar vor dem Eisernen Vorhang liegen, weisen als einzige im Bundesgebiet Abwanderung auf. Überall sonst nimmt die Bevölkerung zu, hier entleeren sich Dörfer und Städte. Die Lust zu bauen, zu investieren ist gering, die Demarkationslinie strahlt Kälte aus. Hinter Helmstedt queren wir die Grenze: Ein breiter Stacheldrahtverhau spinnt sich bis an den Bahndamm heran. Eine Tafel warnt: Achtung, Minen. Die Kontrolle ist vergleichsweise gnädig, anders als früher, als noch aus den Interzonenzügen ausgestiegen und wieder eingestiegen werden mußte. Sogar Zeitungen werden geduldet. Aber: Ich bin allein im Abteil. Es fällt mir auf, daß der Zugsführer immer wieder an meiner Tür vorbeistreicht und zu mir hereinschaut. Nach einer Zeit erscheint die Schaffnerin, eine robuste Vierzigerin, eine deftige Person. "Ich will Sie etwas fragen", beginnt sie. "Mein Kollege getraut sich nicht. Er möchte nämlich Ihre Zeitung haben." Neben mir liegt die "Frankfurter Allgemeine". Ich zögere eine Sekunde. Sollte das eine Falle sein? (Auch ich schon angesteckt von Mißtrauen?) Andererseits ist es unmöglich, einem solchen Wunsch nicht zu entsprechen. Ich reiche der Schaffnerin das Blatt, sie nimmt es und lacht: "Die Männer haben immer Angst. Da müssen wir Frauen einspringen, nicht wahr?" Sie steckt die Zeitung dem Zugführer zu, er schiebt sie eilig ein und schießt damit in den Waschraum. Kurz darauf, in der nächsten Station: Auf dem Nebengeleise ist ein Personenzug eingefahren. Ein junger Bursch springt heraus, sieht sich sichernd um, eilt auf ein Fenster unseres Zuges zu, kann auch dort eine Zeitung ergattern, springt mit ihr zurück auf das Trittbrett seines Zuges, der Zug fährt an. Der Bursch lacht, winkt und verschwindet. Er wird seine Beute nach Hause bringen, sie wird von Hand zu Hand gehen, dieses armselige Stück Papier aus dem Westen. Ob die, die nach ihm greifen, darin finden werden, was sie zu finden hoffen? Ich fürchte: nein. Die Strecke Helmstedt-Westberlin bin ich nach dem Krieg noch nie gefahren. Die über Propstzella-Leipzig kenne ich besser. Hier wie dort ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Siedlungen haben kaum Wachstum angesetzt. Bei uns haben auch kleinste Ortschaften ganze Kolonien neuer Bauten um die alten Kerne angelegt: Etwas Blinkendes geht von diesen neuen Vierteln aus. Hier liegen Städte und Dörfer wie vor Jahrzehnten: graubraun verwittert, abgenutzt. Geplatzter Verputz, Feuermauern, an denen uralte Aufschriften verblassen; Fensterrahmen, von denen letzte Lackreste splittern. Da und dort ein altersschwacher Balkon notdürftig abgestützt, eine Laube aus rohen Brettern behelfsmäßig zusammengenagelt. Am tristesten die bürgerlichen Häuser aus der Wilhelminischen Ära: Ihr verlottertes Dekor läßt die Tragödien ahnen, die sich an ihren Bewohnern vollzogen hat. Wege und Straßen sehen übel aus. Man scheint wenig Wert auf gute Fahrbahnen zu legen. Bezirksstraßen zeigen schmale Kopfsteinpflasterstreifen zwischen breiten Lehm- oder Sandpisten. Die Ackerwege, die Fabrikshöfe - völlig zerfahren, von Pfützen durchsetzt. Da und dort erhebt sich eine gewaltige Rauchfahne. Sie steigen aus Schornsteinen großer Werke auf. Sie allein signalisieren die Mobilisation, die - notwendigerweise - auch hier vor sich geht. Es wird Abend. Die Städte, die wir durchfahren, sind spärlich beleuchtet. Auch die Häuser bleiben zum größten Teil unerhellt. Sie können doch nicht alle leerstehen? Wieder drängt sich mir der Vergleich auf: Als Lichtraster präsentieren sich bei uns abends die Wohnbauten, Bienenkörbe voll rötlich, gelblich und golden erhellten Zellen. Hier bleckt nur hie und da eine nackte Birne hinter einem Fenster. Ich frage mich: Wo bleiben die Menschen, die hier wohnen? Sind sie so lange bei der Arbeit? Oder werden sie in Versammlungssäle beordert? Wo sitzen die Kinder über ihren Schulaufgaben? Wo bereiten die Frauen das Abendbrot? - Die dunklen Häuserblöcke gleiten vorüber. Sie verraten nichts. Wir nähern uns Berlin. Ich stehe auf dem Korridor und warte: Das rote Blinken des Fernsehturms dreht bei. Irgendwo da draußen im Dunkeln verläuft die Mauer. Ich werde sie morgen sehen. Doch zuvor - Aufnahmelager Marienfelde. Auch hier bin ich schon einmal gewesen, damals vor sechs Jahren. Die Szene hat sich verändert. Damals, vor dem Mauerbau, als die Flüchtlingswelle schon hochschlug, was das Notaufnahmelager überfüllt. Tausende wimmelten durch das Gelände. Aus allen Fenstern blickten Gesichter. Schlangen drängten sich vor Schaltern. Abenteuerlich zusammengestoppeltes Gepäck wurde geschleppt; Biwak vielfach im Freien, Kinder schliefen, in Decken gehüllt, zwischen Koffern und Körben; Greise umklammerten ihre Habe. Trotz der Flüchtlingsszenerie herrschte beste Laune: voll Freude, Erwartung, Zuversicht genoß man das Gefühl, ein rettendes Ufer erreicht zu haben. Jetzt ist das Lager leer. Es war für einen Zustrom von Tausenden errichtet worden. Nun kommen zwei oder drei am Tag, bestaunt, bewundert, jeder ein Sonderfall: Wie konnte ihm die Flucht noch gelingen? Aufnahmeverfahren: Ehedem arbeiteten die Kommissionen noch am laufenden Band. Jetzt brauchen sie nur noch selten zusammenzutreten. Jeder Flüchtling wird im Zug dieses Verfahrens über seine Herkunft, seine Ausbildung, seine persönlichen Verhältnisse, vor allem aber über die Gründe befragt, die ihn zu Flucht bewegten, und auch danach, was er jetzt zu tun gedenke. Dann wird die Aufenthaltsbewilligung erteilt, ausnahmslos, eine Formsache. Sie wird nicht von jedem, den sie betrifft, so empfunden. Da ist ein kleiner Sachse, ein hageres Männchen mit schütterem, angegrautem Haar und lichtscheuen Augen. Er war wegen "Herabsetzung der Republik" zu vier Jahren Kerker verurteilt, aber nach 18 Monaten wieder freigelassen worden, doch nur, um in seiner Fabrik als Denunziant eingesetzt zu werden. Er sollte seine Arbeitskameraden aushorchen, sie womöglich zu Mißmutsäußerungen provozieren und sie dann der Polizei ausliefern. Er entzog sich dem Auftrag nicht, konnte sich ihm vielleicht gar nicht entziehen. Er gesteht: Mancher wanderte ins Gefängnis, weil er ihn angab. Doch er gab zu wenige an, seine Auftraggeber setzten ihm zu, wachsamer zu sein. Auf der anderen Seite wurde ruchbar, was er trieb, er wurde gemieden, auch bedroht, nachts flogen Steine gegen seine Fenster, die Schwelle seines Hauses wurde besudelt, in seinem Briefkasten fand er eine tote Ratte. Endlich hielt er es nicht mehr aus. Er ging, ging über die Grenze und stellte sich im Lager der Kommission. Nach der Befragung wurde er hinausgeschickt; die Beamten berieten den Fall. Da öffnete sich die Tür, der Mann stand auf der Schwelle. "Einen Augenblick noch", hieß es, "wir sind noch nicht fertig." Der Denunziant faltet die Hände, er zittert am ganzen Leib. "Schicken Sie mich nur nicht zurück, tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber schicken Sie mich nicht mehr zurück! Ich muß mich umbringen, wenn ich zurück muß." Fünf Minuten später wird ihm seine Aufenthaltsbewilligung erteilt, seine bundesdeutsche Staatsbürgerschaft anerkannt. Er verbeugt sich, verbeugt sich noch und noch einmal, dann stolpert er über die Schwelle - in ein neues Leben, sofern ein Mensch wie er ein neues Leben beginnen kann. Dann ist ein junger Volkspolizist an der Reihe. Er kam mit zwei Zivilisten herüber und erzählt nun die Geschichte seiner Flucht: Ein Abenteuer auf Leben und Tod. Wildwest an der Mauer. Es muß nicht alles wahr sein, was der Junge berichtet. Er macht einen verquälten, zwielichtigen Eindruck. Setzt ihm die Desertion zu? Desertion scheint keine einfache Sache zu sein, auch nicht von dort nach hier. Ihm folgt eine Familie, erfreuliche, kleine Gesellschaft. Ihnen gelang - o Wunder - die Flucht zu fünft. Über den Fluchtweg wollen sie nichts sagen, sie haben recht. Er mag einer der letzten sein, die noch gangbar sind. Er soll nicht preisgegeben werden. Zu oft wurde Geschwätzigkeit denen zum Verhängnis, die denselben Weg nehmen wollten. Gegen Abend mache ich mich auf, um eine Freundin in Ostberlin zu besuchen. Ich darf ja passieren, das papierene Heftchen, Paß genannt, gibt mir das Recht, das anderen verwehrt bleibt und das wahrzunehmen ihnen zum äußersten Wagnis wird: Sie schwimmen durch eisige Flüsse, sie kriechen durch Kanäle, manche ersticken dort im Schlamm und Unrat, weil sie, halbbetäubt, den rettenden Ausstieg nicht mehr erreichen können: Auch hier sind Fallen aufgestellt, Hindernisse eingeschleust. An der tödlichen Grenze scheitern alle Bindungen, sie geht quer durch Familien, scheidet die Gatten voneinander und Mütter von ihren Säuglingen. Man hat mir erzählt, daß sich das Rote Kreuz in den krassesten Fällen um Intervention bemüht, aber nur in drei von tausend Fällen wird ihm stattgegeben; neunhundertsiebenundneuzig von den Tausend bleiben abgewiesen. Wie lange kann so ein Zustand währen? Auch diesmal benütze ich die S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Der Zug ist spärlich besetzt. Von der letzten Weststation Lehrter Bahnhof führt die Strecke die Sektorengrenze entlang. Die Bahnhöfe sind stillgelegt. Die unbeleuchteten Bahnsteige gleiten vorbei, schattenhaft die Tafeln, die keine Bedeutung mehr haben. Halt erst in der Station Friedrichstraße. Schilder weisen zur Kontrolle. Zuerst ein langer, leerer, von trüblichgelben Lampen erhellter Tunnel. Ein Häuflein Hastender eilt an mir vorüber und verschwindet. Ich lasse mir Zeit. Hier, sage ich mir, zwischen diesen grauen Fliesenwänden, auf diesem schrägen Betonband ist Übertritt von hüben nach drüben; hier läuft die Wetterscheide. Hier wird umgeschaltet. Hinter mir bleibt die atlantische Welt, Westwindwelt, Meereshauch, menschenfreundliche Strömung, in der es sich leicht atmen, leicht leben läßt, Wachstumsklima für jederlei Gewächs, auch für Unkraut und Giftpflanzen. Vor mir das ANDERE: Vorfeld des östlichen Imperiums, einer Welt, die lange schlief oder zu schlafen schien - und sich jetzt zu mächtigem Dasein regt, nach unermeßlichen Leiden von einer rasenden Hoffnung erweckt, Hoffnung auf eine bessere Welt, für alle gleich, grausam gerecht. Ein großer Entwurf, gewiß, ein uralter Traum, immer wieder geträumt, durch die Jahrhunderte spukend von Spartacus bis Pugatschew, von Thomas Münzer bis Babeuf und Bakunin und durch Marx in etwas wie ein umfassendes System gebracht. Dieses System nach Osten exportiert und achthundert Millionen Menschen übergestülpt, nichts duldend, was ihm entgegenstünde. Es setzte Asien in Bewegung, es griff in uralte Bestände ein, es sucht den unermeßlichen Raum zu durchgliedern, zu mobilisieren, neue Maßstäbe zu setzen mit einem neuen Menschenbild, dem proletarischen homo faber: eine große Transformation im Sinne der ratio, einer ratio, die so lange unterdrückt worden war und die nun mit Unerbittlichkeit versucht nachzuvollziehen, was Jahrhunderte lang versäumt worden war. Doch was soll dieses Nachziehverfahren bei uns in der Mitte des Kontinents, wo man längst gelernt hat, als homo faber in einer effizienten Arbeitswelt zu funktionieren, wo man sich längst darüber einig geworden ist, daß jeder Mensch einen Anspruch hat auf Menschenrecht und -würde: Hier kommt die große Hoffnung zu spät, hier rennt sie offene Türen ein; hier wird das System angestrengter ratio irrational, unrationell, ein Anachronismus, eine Absurdität. Als solche verschanzt es sich hinter der Mauer. Nun bin ich da und muß eine vierfache Kontrollkette passieren: zuerst einen Kordon blauer Eisenbahnpolizisten; ihm entlang hat der Reisende eine Art Büro aufzusuchen: da stehen Wartende in der Schlange. Zuerst wird der Paß abgenommen, das Nationale aufgeschrieben, der Paß verschwindet hinter einer Bretterwand, wo er wahrscheinlich nicht nur mit Namenslisten verglichen, sondern auch auf seine Echtheit durchleuchtet wird. Die Schlange schiebt sich weiter vor einen langen Tisch, hinter dem drei Uniformierte sitzen, darunter eine Frau. Man wird angehalten, mitgeführte Geldmittel und Wertsachen anzugeben, vom Ehering bis zur Armbanduhr, vom Pelzkragen bis zur Markenfüllfeder. Die 10 Mark, 47 Pfennige, die ich bei mir führe, werden auf einem dreifachen Durchschreibeblatt notiert, ich erhalte die Bestätigung über die Summe und den Hinweis darauf, daß ich die Bestätigung bei meiner Ausreise wieder abzugeben habe. Sollte ich Ostmark kaufen wollen, so würde ich darüber ebenfalls eine Quittung erhalten und müßte sie später zum Vergleich vorlegen. Auch die S-Bahn-Karte für ganze zwanzig Pfennig wird in die bürokratische Manipulation miteinbezogen. Auf diese Weise wird dem Einreisenden das Gefühl eingeimpft, daß hier jede seiner Bewegungen, auch die geringste, unter staatlicher Kontrolle steht. So bin ich beinah verwundert, daß ich endlich, unbehindert und unbeschattet, wie es scheint, in die Stadt entlassen werde. Meine Freundin - ich habe mit ihr zusammen in Innsbruck studiert und habe sie als grundgütigen und tapferen Menschen kennengelernt - lebt hier allein mit ihrer kranken Mutter. Der Vater ist gestorben, die Geschwister sind drüben im Westen. "Du bist also gekommen, die Mauer zu sehen", sagt meine Freundin. "Ich habe sie noch nicht gesehen, obwohl mein täglicher Weg zur Arbeit nur zwei Gassenlängen weiter vorüberführt, ich habe es noch nie über mich gebracht, hinzugehen und sie anzuschauen. Ein einziges Mal bin ich bisher knapp vor die Mauer gekommen, es war auf diesem Friedhof, der an der Grenze liegt und dessen vorderes Tor zugebaut wurde, weil es auf Westberliner Boden führt. Unser Gemeindepfarrer war gestorben, wir haben ihn alle sehr verehrt. Zu dem Begräbnis waren viele Menschen gekommen; sechs unserer jungen Männer trugen den Sarg, sie trugen ihn nicht, wie man Särge gewöhnlich trägt, sondern hoch genommen, mit aufgestemmten Armen, wie - ja wie einen Königssarg, weithin sichtbar. Ja, und dann waren wir also alle um das offene Grab versammelt, eng zusammengedrängt, denn quer über das Gräberfeld ist noch innerhalb der Mauer ein Plankenzaun gezogen, überall standen Vopos, schwerbewaffnet, mit ihren großen Hunden bei Fuß. Drüben im Westen sahen wir Menschen an den Fenstern und auf den Balkonen, sie winkten herüber, aber wir durften nicht zurückwinken. Wer winkt, wird verhaftet..." Ursulas Mutter sitzt dabei. Sie ist schwer krank, seit Jahren. Ich habe sie im Krieg als quicklebendige Person kennengelernt, die ihre Familie dirigierte, die schlagfertig, witzig und unermüdlich tätig war. Jetzt ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Durch einen Schlaganfall hat sie die Sprache verloren, kann nur noch lallen, Unverständliches oder die immer gleichen kindischen Worte: "Gute Puppi, gute Puppi", sagt sie mir und streichelt meine Hände; Puppi, so nennt sie auch ihre Tochter, so hat sie sie genannt, als sie klein war, alle anderen Namen sind ihr entschwunden. "Trab, trab!", versichert sie mir und zeigt auf Ursula, wohl um mir mitzuteilen, daß diese immer sehr beschäftigt sei und sich trotzdem fleißig um die Mutter kümmere, dabei versucht sie, mich tapfer anzulächeln, doch Tränen stehen in ihren Augen. Zeitweise, sagt Ursula, sei die Ärmste ganz verwirrt, dann schlürfe sie ruhelos in der Wohnung herum, reiße Schränke und Laden auf und stöbere sogar in den Öfen und Rauchröhren; dann suche sie ihre Kinder, ihre Enkel, die drüben im Westen sind, und begreife nicht, wieso sie sich gar nicht mehr blicken lassen. "Und doch", sagt Ursula, "so wie ich hier lebe, ist mir die Mutter noch der einzige Trost." Ursula hat nie versucht, ihren Platz hier zu verlassen. "Es dürfen ja nicht alle gehen", hatte sie gesagt, als es noch möglich gewesen war hinüberzukommen. Sie arbeitet an einem Institut, das das große Goethe-Wörterbuch zustande bringen soll. "So muß ich mich auf nichts Politisches einlassen." Überdies - sie ist praktizierende Katholikin. Am anderen Abend komme ich wieder. Wieder habe ich eine Stunde vor der Grenze verloren, wieder habe ich ein halbes Dutzend Formulare ausfüllen und meine Barschaft vorlegen müssen. Diesmal suche ich mit Ursula zusammen eine Kirche auf. Es ist weder Sonnabend noch Sonntag, es ist keine Messe angesetzt, sondern eine Abendandacht mit Rosenkranz, Litanei und Segen. Diese Art von Gottesdiensten werden bei uns immer nur von wenigen besucht. Hier ist die Kirche voll. Die Menschen knien in ihren Bänken, manche haben das Gesicht in ihren Händen vergraben, niemand kommt zu spät oder geht früher weg. Die Responsorien werden lateinisch gesprochen: keine Stimme, die dabei zögert oder unsicher würde. Das Hermetische der römisch-katholischen Kirchensprache geht mir hier in einer neuen Bedeutung auf. Sie vermittelt Einheit und Ganzheit - und das Gefühl verschworener Gemeinschaft. Auch der Gemeindegesang hat etwas Einmütiges, Festes, jede Strophe klingt wie ein Schwur. Verstohlen schau ich um mich: Es sind viele alte Menschen da, aber auch junge, sehr junge, auch Familien mit ihren kleinen Kindern. In den Gesichtern ist ein Ausdruck von etwas Unverstörbarem, ein Ausdruck der Unbeugsamkeit. Vor dem Altar haben Fahnen Aufstellung genommen. Sie wurden bei der Erteilung des Segens tief gesenkt. Am Ende des Gottesdienstes werden sie durch den Mittelgang herunter in eine Seitenkapelle getragen. Die Gemeinde hat sich erhoben und bleibt, als grüßte sie die Fahne, in ihren Bänken stehen. Ich sehe sie mir an, diese Fahnenträger, junge Burschen und Mädchen, wie sie gesammelt, mit gesenkten Lidern, an uns vorübergehen: kein Seitenblick, kein Lächeln. Sie kennen die Unerbittlichkeit ihrer Verfolger. Sie wissen, was sie tun. Wir verlassen die Kirche. Meine Freundin hat meinen Arm genommen. "Verstehst du jetzt, daß ich nie ernstlich erwogen habe, von hier wegzugehen?" - Ja, ich verstehe es. Meine Freundin begleitet mich zur Stadtmitte - und nun geht sie doch mit mir zur Mauer. Wilhelmstraße, Brandenburger Tor: vor uns zieht sich eine Kette greller Lichter den Rand des Tiergartens entlang. Dort ist sie, die MAUER, weiß angestrahlt, ausgeleuchtet. Wir sehen die Posten hinter den Schranken ihre Strecken abschreiten, kleine, dunkle Figuren im entleerten Raum. Immer zu zweit. Man weiß, warum. Meine Freundin ist verstummt. Ich fühle, wie sie zu zittern beginnt. Sie möchte sprechen. Die Stimme versagt ihr. Mir bleibt nichts anderes übrig, als sie wegzuführen von diesem Ort, von diesem Anblick. Unter den Linden trennen wir uns. Ich schau ihr nach, wie sie die ungeheure öde Straße entlang geht: vornübergeneigt, hastig, wie flüchtend; auch sie - wie flüchtend. Ich stehe noch immer vor der russischen Botschaft: ein riesiger Bau mit grobem Dekor, klotzig aufgetürmt, ihre Umgebung weit überragend, Zwingburg der Macht. Hier in der Nähe, Wilhelmstraße, stand einst eine andere Zwingburg, die Neue Reichskanzlei. Der von Bomben zerfetzte Bau wurde bis zu den Grundmauern abgetragen. Leer und wüst liegt der Platz, ein dämonischer Ort. Mit Schaudern gehe ich an ihm vorüber. In dieser Nacht ist es mir, als wäre die MAUER dort drüben nur ein gespenstiger Wiederkehrer, ein geisterhafter Revenant jener anderen unzähligen Mauern, die hier, in den marmornen Wandelhallen der Neuen Reichskanzlei, von einem wahnsinnigen Gehirn erdacht und von einem zerstörerischen Willen befohlen worden waren, Mauern an anderen Orten, über ganz Deutschland, später über halb Europa verstreut, Ringmauern um Lager und Ghettos, Schlachthausmauern, hinter denen "lebensunwürdiges Leben" abgetan und ausgelöscht wurde: barbarischer Rückfall in vorhumane Epochen, gekoppelt mit perfekter Technik - und umso scheußlicher. Dann traf der Gegenschlag. Er traf gerade diesen Teil Deutschlands mit voller Wucht. Wer kann das Unmaß an Leiden ermessen, die hier durchlitten werden mußten, und wie ist es möglich, nach einem solchen Ende wieder zu beginnen? Unverscheuchbar saß das blutige Gespenst der Schuld mit am Tische, vor den die Besieger die Besiegten luden, diese Besiegten, die doch oft nichts weiter waren als Nur-Überlebende. Was hätten sie an Rechtfertigung vorzubringen gehabt, da sie doch vor sich selbst nichts mehr vorzubringen hatten? Der Wahnsinn hatte alles in seinen Untergang mit hineingerissen: das Selbstverständnis der Nation aus ihrer Geschichte, die natürliche Ehre des Volkes, das Vertrauen zu Staat und Ordnungsmacht, die Gutgläubigkeit der Jugend -, alles hatte er zu seinen verzweifelten Zwecken ausgeplündert und zusammen mit den armen Kadavern seiner Opfer verheizt. Hinter Stacheldraht und Mauern hatte er seine Untaten getrieben, wohl verborgen und abgesetzt. Doch was an dumpfen, unglaublich klingenden Gerüchten jemals hervorgedrungen war, hatte sich nun, 1945, entsetzlich bestätigt, und verstört starrte die Nation in die aufgerissenen Breschen, in die offenen Luken der Verbrennungsöfen. Den Überlebenden blieb die tabula rasa. Das geistige Niemandsland war freigelegt und konnte neu besetzt werden. Es wurde auch bei uns im Westen neu besetzt, auch bei uns in Österreich, vielleicht gründlicher neu besetzt, als wir es uns täglich bewußt machen. Auch wir sind in eine neues Spiel eingetreten, sind umerzogen worden, haben unser altes Dasein abgestreift. Es war unser Glück, daß unsere Besieger zu unseren Partnern wurden, daß sie die Spielmarke Freiheit auswarfen und uns aufforderten, sich ihrer zu bedienen. Hier im Osten lagen die Dinge anders. Hier ist das schwarze Los gezogen worden. Auch hier forderten die Sieger nicht allein faktische, sondern auch moralische Unterwerfung. Nach dem, was nach der Niederlage bekanntgeworden war, war diese Unterwerfung nur unter völliger Selbstpreisgabe zu vollziehen. Zur völligen Selbstpreisgabe sind meist nur wenige, einige aber immer fähig. So öffnete sich die Kluft: hie Ost - hie West. Anfangs war da nur ein Unterschied im Ausmaß der erlittenen Leiden. Der Unterschied wuchs und wuchs. Die Vereinigung der drei Westzonen und der Tag X, der Tag der Währungsreform, machten die Trennung offenbar. West und Ost begannen mit verschiedenem Geld zu rechnen, und der steigende und sich allmählich beinahe magisch verklärende Glanz der Wirtschaftswundermark tat das Seine dazu. Teuer bezahlter Glanz. Die Quittung - hier ist sie: die Mauer. Ich friere. Kalt weht der Wind. Ich kann nicht mehr unterscheiden: Weht er vom Osten, weht er vom Westen oder fällt er aus dem sternenlosen Himmel? Er schwirrt in den kahlen Büschen auf dem Gelände der ehemaligen Reichskanzlei. Hier wurde die Wüstung vorbereitet, die VERWÜSTUNG, die Spaltung und Schizophrenie über ganz Mitteleuropa ausbreitet, ein schleichendes Siechtum, das sich in Feindschaft niederschlägt und in blinden Haß entartet. Wie überall, wo innere Konflikte, nach außen gekehrt, mit der Erbitterung des verstörten Gewissens geführt werden, ein klägliches Schauspiel. Noch einmal Kontrolle an der Friedrichstraße. Wieder dauert sie endlos. Das bunt gemischte Menschenknäuel vor der Schranke, Inder, Finnen, Israeli, Neger und etliche Westdeutsche, schiebt sich langsam, ganz langsam vorwärts. Eine rotgesichtige Dame beginnt laut zu schelten. Sofort stoßen zwei Polizisten auf sie zu und weisen sie scharf zur Ruhe. Man fröstelt, man trippelt hin und her. Mißgelaunt und feindselig blicken die Gesichter unter Tellerkappen und Schiffchenmützen auf uns. Es geht auf Mitternacht zu. Sicher haben sie schon einen lange Dienst hinter sich, trotzdem ziehen sie die Prozeduren unerbittlich in die Länge, als bereitete es ihnen eine Genugtuung, die Fremden aufzuhalten, zu ärgern, zu erbittern. Der einzige unter den Wartenden, der keinerlei Ungeduld zeigt, ist ein junger schwarzhaariger Mann, vielleicht ein Perser. Er hält eine Puppe im Arm, eine Maskotte, wie sie auf Jahrmärkten feilgeboten werden, bei Schießständen als Preise zu gewinnen sind: betrunkener Seemann mit langem Schnauzbart. Zärtlich zwirbelt der Perser den Schnauzbart der Puppe, er ist entzückt und fasziniert davon, daß sie die Arme schwenken, und mit dem Kopf nicken kann. Auf einmal quarrt sie laut. Die Wartenden drehen sich nach ihr um, aber auch die Gesichter unter den Tellermützen und Schiffchenkappen blicken auf, spähen, beugen sich vor. Einer hat die Quelle des fremdartigen Geräuschs entdeckt und weist die anderen darauf hin. Stolz hebt der Perser das Ding hoch und läßt es zehnmal kräftig quarren. Die Mienen der Uniformierten erhellen sich. Auf einmal können sie lächeln, sie lachen sogar, sie nicken. Die blöde Jahrmarktpuppe hat sie zur Freundlichkeit bewegt, nur sie. Am anderen Tag Fahrt zur Bernauerstraße, Fahrt die Umzingelung entlang. Wie oft man das hört: Berlin ist eine belagerte Stadt! Doch seltsam: Die Belagerer selbst haben die Mauer gebaut, haben die Enklave, die sie zur Kapitulation zwingen wollen, mit einem Wall umgeben. Ihr erstes wichtigstes Ziel war sicher, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, der seit Kriegsende unaufhaltsam über Westberlin in die Bundesrepublik abfloß und auf die Dauer schwerste Einbuße brachte. Ein weiteres, ferneres Ziel könnte die Aushungerung, psychologischer und biologischer Art, gewesen sein. Sie ist noch im Gange, und ihr zu begegnen, wird große Anstrengungen kosten. Dennoch übertrifft der Zuzug schon wieder die Abwanderung aus dem westlichen Teil der Stadt. Überdies muß sich ein Gemeinwesen, auch ein belagertes, gestärkt fühlen, wenn es, zwar materiell von seiner Umgebung abgeschnitten, sicher sein darf, daß Unzählige in seiner nächsten Umgebung mit allen Sinnen danach trachten, sich ihm einzuverleiben. Man hat in bezug auf den Flüchtlingsstrom aus dem Osten von Abwerbung gesprochen. In vielen Fällen gewiß zu Recht. Aber Hunderttausende, ja Millionen können nicht abgeworben werden. Da ist ein mächtigerer Zug im Spiel, derselbe Zug, der in der Natur Vögel und Rentiere wandern läßt. Auch sie suchen Tauwetterland. Diese Suche läßt jetzt viele Ostdeutsche nach Polen hinüberwechseln. Sie werden, wie man hört, dort gut aufgenommen. Die große Völkerwanderung nach dem Westen schlägt um, sucht Nischen im Osten, sucht dort Asyl, wo man vor siebzehn Jahren unter allen Schrecknissen das Feld zu räumen gezwungen war. Höchst seltsam! Aber das menschliche Klima wird an den Bewegungen deutlich, die es verursacht. Nun - Kältepol Bernauerstraße: Eine Häuserzeile, wie es deren Hunderte gibt in dieser Stadt, schmalbrüstige Wohnkästen aus der Gründerzeit, das ärmliche Dekor ihrer Fassaden verwittert, da und dort noch Spuren des Luftkrieges. Hier läuft die Sektorengrenze den Häusern entlang, die Menschen, die hier wohnten, unterstanden dem Osten; doch wenn sie auf die Straße traten, waren sie im Westen. Jetzt sind die Wohnungen geräumt, die Fenster vermauert, selbst die Dächer sind mit spanischen Reitern bestückt. Agnes Bernauer, die Person, die dieser Häuserzeile den Namen gab, die unglückliche Baderstochter aus Augsburg - sie wurde vor 500 Jahren ein Opfer der Staatsraison, in die Donau gestürzt und ertränkt. Hier stürzten sich Verzweifelte aus den Fenstern - und nicht alle erreichten das rettende Sprungtuch. So hat ihr Blut diese Grenze auf makabre Art gekennzeichnet. Ich denke daran, daß das moderne städtische Leben damit begann, daß die alten Fortifikationslinien abgetragen oder - noch viel öfter - zu Wohn- und Nutzbauten umgewandelt wurden. Schießscharten wurden zu Fenstern erweitert, Wehrgänge zu Stuben ausgebaut. Der durch das Festungsgemäuer öde hallende Schritt der patrouillierenden Wachen wurde von den vielfältigen Geräuschen fruchtbar-regsamen Lebens abgelöst. Hier geht das Umgekehrte vor sich: Die Fenster sind vermauert, die Räume verödet; Finsternis, wo einstmals das Sonnenlicht in bewohnten Zimmern lag. Nur noch der lederknarrende Schritt der Wächter und das metallische Klicken der Waffen machen die Runde. Welch ein Vorgang mitten in einer Großstadt, ehemals Weltstadt, Rückgriff in ausgelebte Zustände, die ganze Mauer ein archaisches Bauwerk und, daß sie errichtet wurde, eine archaische Tat. Das ist das scandalum an ihr, daß sie dem Gesetz, nach dem die Welt heute lebt, so geradeaus, so ohne Scheu und Beschönigung ins Geschicht schlägt. Heute lebt die Welt im Zug immer größerer Agglutinationen, immer größerer Wirtschaftskörper, die im Zug immer größerer Mobilität stehen. Alle Beziehungen verflechten sich zu immer weiter ausgreifenden Systemen. Hier wird das Gegenteil agiert und zum Staatsgrundgesetz erhoben. Freilich: So hoch bei uns Freiheit und Recht zu Buche schlagen, so können wir es doch nicht leugnen, daß Begriff und Praxis der Freiheit im Westen auf peinliche Weise diffus geworden sind. So kommt es mir immer lächerlich vor, wenn unsere Zeitungen darüber jubeln, daß sich auch unter der Jugend des Ostens Niethosen und Jazzwut verbreiten, als ob da irgend etwas im Gange wäre, was dem Individuum zu sich selbst verhelfen könnte und als ob dabei etwas anderes als eine neue Art der Vermassung in Bewegung gesetzt würde. Wenn unser Freiheitsbegriff im östlichen Teil der Welt irgendwelche Chancen haben will, dann müßte er wohl auf ganz anderer Ebene gesucht werden. Da fällt dann etwa die Nachricht ins Gewicht, daß der vorletzte große Parteikongreß in Moskau die zuvor verketzerte Einsteinsche Relativitätstheorie offiziell anerkannt hat. Auf solche Kehrtwendungen im Zentrum könnte sich eher Hoffnung begründen lassen. In ihnen wird - weit hinter der Mauer - ein Zug zu globaler Eingemeindung sichtbar, erstes schüchternes Tauwetterzeichen, das aber nicht mehr - wie andere - politisch rückgängig gemacht werden kann, weil es Grundsätzliches betrifft und schon im Augenblick seines Eintritts unaufhebbare, wenn auch vielleicht zu lange Zeit nur unterschwellig wirksame geistige Folgen freigesetzt haben muß. Wo der historische Materialismus als Teil eines mechanistischen Weltbildes, wenn auch noch so vorsichtig abgebaut und in Richtung eines differenzierteren dynamischen Weltbildes erweitert wird, könnte auch die restlose Verfügbarkeit des Menschen durch die politische Manipulation mit der Zeit, Schritt für Schritt, in Frage gestellt und einer Korrektur unterzogen werden. Dann könnte die Berliner Mauer als der Ort erscheinen, an dem sich das Höchstmaß von Manipulation ereignete, wo sie aber auch vielleicht ihre Peripetie erreichen wird. NACHWORT, November 1989 Die Mauer ist gefallen, die Grenze geöffnet. Zuvor Unvorstellbares ist geschehen. Der Anstoß zum Umschwung kam in der Tat vom Zentrum. Der Geist weht doch, wohin er will. Redaktion: Alexandra Linder M.A. und Michael Ragg Bitte beachten Sie unsere Seite "Aktuelles". |
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