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Der historische Roman. Facetten und Perspektiven

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 In brennender Sorge

Der historische Roman. Facetten und Perspektiven

Teil eines Vortrages, den Frau Fussenegger am 26. Januar 1997 an der Evangelischen Akademie Meißen gehalten hat.

Der historische Roman. Facetten und Perspektiven

Wir alle wissen: Manche Menschen leben vor allem aus und mit der Vergangenheit, andere vor allem für und in die Zukunft. Diesen mag es oft scheinen, daß sich die Zeit nicht rasch genug auf sie zubewegt, sie klagen über das widerständige Schneckentempo der Jahre. Die anderen schaudert es vor der Flüchtigkeit der Stunde, sie möchten Vergangenes festhalten, festnageln, für immer vergegenwärtigen. So wirkt die Zeit manchmal wie ein Gummiband: einmal ein zähes Medium, das sich kaum heranziehen läßt, dann wieder schnellt sie uns entgegen und schlägt uns ins Gesicht. Einmal ist Vergangenheit unser Halt und unser Nest, dann wieder eine würgende Schlinge.

Wir Deutsche kennen sie in beiderlei Gestalt.

Gewiß, es gibt viele Menschen, deren Dasein in stillen Winkeln verläuft, abseits vom Strom der Geschichte, wo ihr Lebenskahn sanft dahindümpeln darf. Diese Menschen können Heimat, Familie, Beruf als geschlossenes Kontinuum erleben.

Für mich war das anders - und für Millionen meiner Generation und der folgenden. Uns hatte die Geschichte früh am Wickel, uns hat sie gebeutelt und herumgeworfen, und selbst wenn wir, von liebenden Eltern behütet, eine Zeitlang das Gärtchen einer intakten Kindheit bewohnen durften, so grollte und dröhnte es doch von außen herein, bald näher, bald ferner. Wir lasen aus den besorgten Mienen der Erwachsenen, wenn sich wieder etwas Bedrohliches zusammenballte, wir spürten die allgemeine Not daran, wie kostbar plötzlich eine Scheibe Brot, ein Zuckerwürfel geworden war. Wir spürten freilich auch den Wechsel in freundlichere Zonen, wenn wir zu Weihnachten ein Paar nagelneue Schuge unter dem Christbaum fanden, wenn wir eine bessere Wohnung beziehen und uns an einen reichlich bestellten Tisch setzen durften.

Auch so kann Geschichte erfahren werden, in kleinen, ja winzigen Signalen des Alltags. Aber nicht jedermann ist bereit, sich mit diesen Einzelheiten zufrieden zu geben. Verlangen keimt auf nach Erkenntnis von Zusammenhängen, Hintergründen, nach Gestalt und Sinngebung. Man möchte die eigene splitterhafte Erfahrung vom großen Ganzen bestätigt sehen, möchte Partei ergreifen, für oder gegen etwas sein. So entsteht historisches Interesse und/oder auch politische Neigung. Beide verlangen dann ihrerseits nach sprachlichem Ausdruck.

Oder - nein? Vielleicht ist es genau umgekehrt? Nicht Außenwelt steht am Anfang, so mächtig es sich gibt, sondern Sprache - oder sagen wir´s etwas bescheidener: Sprachbegabung; eine besondere persönliche Hinneigung zum Wort; ein psychischer Innendruck, der auf Ausdruck zielt; da haben wir etwa das Kind, das nicht nur gern liest, sondern auch gern schreibt, das sogar der schulischen Aufsatzstunde entgegenfiebert. Das Kind, das erzählen will, oft nicht einmal recht weiß, was es erzählen will, sich aber randvoll fühlt von Energien. So kann anfangen, was wir dann später vielleicht das Leben eines Schriftstellers nennen dürfen.

Gesetzten Falles nun: Beide Komponenten treten zusammen: Die frühe Erfahrung von Ereignissen historischer Dimension; die emotionale Bindung an diese Dimension; dazu eine lebhafte Phantasie, die sich im Raum der Vergangenheit ergehen will, weil ihr dieser Raum in besonderer Weise erlaubt, den sprachkreativen Innendruck loszuwerden...So könnten, glaube ich, die biographischen Vorbedingungen aussehen, die sich bei Autoren historischer Literatur ausmachen lassen.

In meiner Jugend - Ende der Dreißiger Jahre - ging unter etlichen meiner Kollegen die Forderung um, der Schriftsteller dürfe nur das schreiben, was er selbst erlebt habe. Nur so könne er wirklich authentisch bleiben. Ich schätze die Kollegen, die diese asketische Theorie vortrugen. Doch sie schien mir so gar nicht zu dem zu passen, was ich unter Literatur verstand und liebte, und schon gar nicht zu dem, was ich in mir selbst an Vorstellungen und Plänen bewegte. Immerhin fühlte ich mich durch die harsche Forderung verunsichert, so als würde sie mich von vornherein aus allen höheren literarischen Möglichkeiten ausschließen.

Ich hätte den Kollegen erwidern können, daß der größte Teil der Weltliteratur selbst wieder historische Literatur sei. Spielte etwa die Ilias zu Homers, die Äneis zu Vergils Zeiten? Und hatten sich nicht unsere verehrten Klassiker mit Götz und Egmont, Tell und Penthesilea, Kohlhaas und Witiko ausgiebig aus der Geschichte bedient? Und haten sie damit historische Dichtung nicht ein für allemal hoch legitimiert?

Leider fiel mir dieses Argument bei der Diskussion mit den Kollegen nicht ein. Möglicherweise, so dachte ich schon etwas eingeschüchtert, ist nur uns Neueren das Schweifen in die Vergangenheit nicht mehr erlaubt. Möglicherweise übernehmen wir uns, wenn wir die Könige und Helden aufmarschieren lassen oder gar, wenn wir uns an das Genie heranwagen, an den Geistesriesen, ob Künstler oder Heiligen oder Politiker. Und in der Tat: hatte mich nicht selbst schon ein ödes Gefühl beschlichen bei der Lektüre von Mereowsky, wenn er sich Leonardos bemächtigte, bei Emil Ludwigs "Napoleon"?

So faszinierend die große Gestalt in das Feld der Geschichte hineinwirkt, so gefährlich ist es, sich belletristisch auf sie einzulassen, den belletristisch heißt ja auch immer besonders intim. Schon der Historiker hat es nicht leicht mit dem Giganten. Der Dichter gerät in die Rolle der Ameise, die einen Berg abtragen will.

Nun aber - Sie alle, meine Damen und Herren, kennen das Aperçu von Brecht: "Der Große Alexander eroberte Kleinasien und wurde dafür hochberühmt. Ja, war er denn dabei allein? Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?" Eine dialektische Formulierung, witzig, treffend, voll hintergründiger Bissigkeit. Denn natürlich hatte Alexander einen Koch bei sich, viele Köche sogar, und er hatte vor allem eine ganze Armee bei sich, die für ihn kämpfte und litt. Verdiente dieses namenlose Fußvolk der Weltgeschichte nicht auch unsere Aufmerksamkeit? Doch. Zweifellos. Und sollte es uns nicht reizen, das ganze Unternehmen der asiatischen Eroberungen einmal aus dem Blickwinkel dieses Fußvolks ins Visier zu nehmen, vielleicht eben des erwähnten Kochs als des zivilsten und bescheidensten Mitglieds des ganzen Heerwurms? - Ein prächtige Kontrastfigur zum vergöttlichten Heros!

Auf diesem Feld des kleinen Mannes, der anonymen Frau, ja, des eben zu sich selbst erwachten Kindes kann der Autor der historischen Erzählung seine Themen finden. Da haben wir dann etwa den jungen Pagen, der Gustav Adolf den Nachttrunk bereitet, oder Ben Hur, der, als gefesselter Sklave durch ein gewisses galiläisches Dorf getrieben, von einem Unbekannten mit einem Schluck Wasser gelabt wird; wir sehen Barrabas, den zelotischen Räuber, der anstatt Jesus Christus dem Kreuz entkommt, und sehen auch Oskar, den Blechtrommler, als ungerührten Kronzeugen des Untergangs seiner Heimat.

In summa: Zwischen den Randfiguren der Weltgeschichte darf sich also der Schreiber historischer Romane am wohlsten fühlen. Hier ist ein nahezu unbegrenztes Gebiet, in dem er sich bewegen kann, hier ist die epische Phantasie herrlich ermächtigt, frei zu schalten, zu vermischen, zu verformen, zu neuen Perspektiven durchzustoßen und zu deuten. Denn diese Neu-Deutung ist die unvergleichliche genuine Aufgabe seiner Kunst. Wozu taugte Kunst überhaupt, wenn nicht zu Neudeutungen, Neuinterpretatonen vorgegebener Bestände? (Darüber wird noch zu sprechen sein.)

Es ist nun freilich nicht abzuleugnen, daß dem Autor der historischen Erzählung verschiedene Risiken im Nacken sitzen. Ein ziemlich banales Risiko ist, daß der Autor über die von ihm erwählte Epoche einfach zu wenig weiß. Er hat nicht genug recherchiert - aber er kann eigentlich auch nie genug recherchiert haben. Ein anderes Risiko ist, daß sich der gute Mann in den Geist der Epoche gar nicht einleben kann. Wer etwa zur Zeit der Völkerwanderung seinen Lieblingsprotagonisten reden und agieren läßt wie einen Musterdemokraten den PC, der hat sein Arbeitsziel doch etwas verfehlt, und wer einen ägyptischen Reichsverweser aus dem zweiten Jahrtausend v. Chr. über Gott und die Götter meditieren läßt wie einen Religionsgelehrten und Mythenforscher unserer Tage, der muß das schon mit so großer Kunst und mit so perfekter Souveränität tun wie Thomas Mann in seinem Josephsroman.

Immerfort schwebt der Autor historischer Belletristik in der Gefahr, in irgendeiner Sache geirrt zu haben und von einem besserwisserischen Fachmann zurechtgewiesen zu werden. Umberto Eco, Schöpfer des berühmten Romans "Der Name der Rose", hat eben über dieses Problem in seiner klugen Poetik-Vorlesung nachgedacht und ist zu dem weitherzigen Urteil gelangt, daß der kleine Schnitzer fast unvermeidlich und deshalb auch zu verzeihen sei; der grobe Schnitzer müsse natürlich vermieden werden.

Das ist ja tröstlich.

Nun aber- das Risiko des mit seinem Stoff nicht zutiefst vertrauten Autors ist noch ein anderes. Es tritt schon bei der Konzeption des Textes bzw. bei der Niederschrift auf. Es sind die zarten Unschärfen, die den Blick des Autors umnebeln, wenn er sich den Vorgang, den er darstellen will, nicht ganz genau - sozusagen bis auf Haar und Schattenstrich - vorbuchstabieren kann. Hier lauern Tücken schon in den nichtigsten Kleinigkeiten.

Zum Beispiel: Wir sind als Leser eines historischen Romans dazu eingeladen, dabei zu sein, wie der Held erwacht, aufsteht, sich ankleidet. Eilig schlüpft er in Hemd, Hose und Wams. Wie aber sehen diese Kleidungsstücke aus? Hat sie sich der Autor genau genug vergegenwärtigen können? - Er läßt seinen Helden ungeduldig an den Knöpfen fingern...Wie sind nun diese Knöpfe, groß oder klein, aus Holz, aus Horn oder Leder? Nein, nicht daß wir als Leser etwas über diese Knöpfe erfahren wollten, Gott bewahre! Aber sollte sich der Autor mit seinem Protagonisten nicht wirklich rundum aufs genaueste bekannt gemacht haben? Wir, seine Leser, sind nur begierig zu erfahren, warum der Mann in Eile ist, welche Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen er hegt. Doch wird uns der Autor diese Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen wirklich ganz plausibel machen können, wenn ihm so vieles am Bild seines Helden zu nebelhaftem Ungefähr bleibt?

Ach, werden Sie sagen, das sind Tüfteleien. Mag sein, Tüfteleien. Aber sie sollen die Herausforderungen der Phantasie kennzeichnen, die sich nun einmal auf die Suche nach einer versunkenen Welt begeben hat. Da tauchen tausend Fragen auf nach tausenderlei Quisquilien - in unendlicher Reihe.

Nun denn, wenn es wirklich so mühsam ist, ein geschichtliches, Geschichte gewordenes Ambiente aus dem Brunnenschacht der Vergangenheit zu hieven: warum, in Gottes Namen, ist es dann nicht viel einfacher und sicherer für den Schriftsteller, in der eigenen Gegenwart zu bleiben, in seiner Lebenszeit, wo ihm alles, bis zur geringsten Schattierung, vertraut oder doch leicht erschließbar sein muß? Was treibt ihn, diesen verbohrten Menschen, in die Vergangenheit? Statt daß er sie den gelernten Historikern zur Aufarbeitung überließe? Ja, was??

Ich war eine junge Autorin bzw. nicht einmal Autorin. Noch war mein erstes Buch, ein "Roman aus deutscher Frühzeit", nicht erschienen. Ich war in Berlin, dort hatten verschiedene Verlage Interesse an meinem Manuskript angemeldet. Dementsprechend war ich euphorischer Stimmung. Da aber sprach mich der Verleger Neff an. "Ja", sagte er, "Ihr Buch - gut und recht. Aber warum haben Sie es denn im 10. Jahrhundert angesiedelt? Hätten Sie es doch in die Gegenwart verlegt!" Ich war erstaunt und betroffen. Die Frage berührte mich an einer heiklen Stelle. Noch niemand hatte sie mir gestellt, und auch mir hatte sich das Problem noch gar nicht gestellt. So sehr war mir mein Thema, das Schicksal einer Frau, die ihr erstes Kind verstößt, von allem Anfang an in den historischen Raum hineingewachsen.

Jetzt begann ich zu grübeln: Warum? - Ja, warum hatte ich nie auch nur erwogen, die Geschichte in unser Jahrhundert zu verpflanzen? Ich gab mir selbst die Antwort: Weil mir jene ferne Zeit so viel bildhafter erschien. - Gut, diese Antwort war nicht falsch, aber sie war nicht erschöpfend. Denn was machte die Vergangenheit so viel bildhafter als die Gegenwart? Wer hat sie uns als so viel bildhafter vorgefertigt? Woher kommt es, daß ein historisch definierter Ort - z.B. ein verfallenes Schloß oder eine archaische Stube oder ein mittelalterlicher Marktplatz um so viel leichter zu poetisieren ist, das heißt, warum ist ihm so viel leichter eine symbolische Bedeutung abzugewinnen als einer modernen Fabrikanlage, einem modernen Büro oder einem Parkplatz? Spielt da nicht Unliterarisches Optisch-Ästhetisches herein, Unterschwelliges aus Moralisch-Religiösem, Kulturhistorisches überhaupt? Lauert da nicht hinter dieser leichteren Poetisierbarkeit eine Gefahr, die nämlich, daß man sich als Autor auf Längstvorgefertigtes, Allzuglatt-Vorgeschliffenes und damit auf Nicht-Authentisches einläßt? Diese Fragen verfolgten mich lange.

Wie ich soeben sagte: Ich habe mit einem Roman aus deutscher Frühzeit, genauer gesagt aus dem 10. Jahrhundert, begonnen. Die nächste Publikation "Die Mohrenlegende" handelte schon in der Kreuzzugszeit; der Roman, den ich im Krieg konzipierte, "Die Brüder von Lasawa" im 17. Jahrhundert...So habe ich mich allmählich in immer nähere Vergangenheit bis ins 19. Jahrhundert heraufgedient, da aber, im Roman meiner eigenen Mutterfamilie hatte ich durchaus nicht mehr das Gefühl, mich in einem historischen Raum zu bewegen. Da agierten Menschen, die ich noch gut gekannt hatte. Sie lebten in einem Haus, das mir vertraut war, zwischen Möbeln, die ich selbst benützt hatte - in meiner Nase war noch der Geruch, der aus ihren Schränken strömte.

Freilich - als ich dieses Buch "Das Haus der dunklen Krüge" zu schreiben begann - Spätwinter 1945 - war es schon so weit, daß ich mit Sicherheit wußte, dieses Land Böhmen, diese Stadt Pilsen, dieses Haus, mein Geburtshaus, werden mir in Zukunft genau so entrückt sein wie fernste Zeiten, eine Art Vineta, ins Unerreichbare versunken. Und vermutlich war es eben dieser Umstand, dieses Abgetauchtsein ins Endgültig-Verlorene, was meine Niederschrift motivierte.

Später habe ich drei Romane geschrieben, die zum größten Teil zu meiner Lebenszeit, vor und nach dem 2. Weltkrieg spielen. Erst in den 80er Jahren habe ich wieder in einem Briefroman rund um Jesus Christus einen historischen, hoch-historischen Pfad betreten, nicht so sehr weil mich das Bildhafte des Biblischen unwiderstehlich angezogen, weil mich die immanente Poesie des Neuen Testaments so bezaubert hatte, das auch, das auch! - Sondern weil ich mich einer Frage tief und schmerzlich verpflichtet fühlte und diese Frage betraf meine eigene Lebenszeit. Wie kann es denn nur geschehen, daß der Zeitgenosse mit Blindheit geschlagen ist dem gegenüber, was neben ihm oder in engster Nachbarschaft geschieht, daß er Entscheidungen nicht wahrnimmt, weder Gutes noch Böses, und daß er nichts von dem Muster erkennt, in das er selbst verwoben ist?...

 

Redaktion: Alexandra Linder M.A. und Michael Ragg

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