Aktuell: Katastrophen und Chancen unseres Jahrhunderts
 

   

 

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Katastrophen und Chancen unseres Jahrhunderts

in: 1945-1985, Verlust der Heimat, Aufgabe für Europa. Ackermann Gemeinde, Heft 33, München 1986, p. 14-25

Ich habe hier die Aufgabe übernommen, über Katastrophen und Chancen unseres Jahrhunderts zu sprechen; eine Aufgabe, die auch dem mutigsten Referenten die Rede verschlagen könnte. Wie soll ich beginnen, auf welche Schwerpunkte mein Augenmerk konzentrieren? Wovon denn sonst als von Katastrophen und Chancen unserer Zeit ist die Rede in Zeitungen, Büchern und Filmen, im Radio, im Fernsehen, auf Universitäten und am Biertisch? Was geht in uns um als Erinnerung an Katastrophen? Woran klammern sich unsere Hoffnungen, wovon flüstern, wimmern, ja schreien unsere Ängste?

Ich will einen Weg einschlagen, der zunächst ein Umweg sein wird. Ich lenke meinen Blick zurück zum Anfang dieses Jahrhunderts und versuche mir vorzustellen, was unsere Väter, unsere Großväter und – für die Jüngsten unter Ihnen – Ihre Urgroßväter damals um 1900 von dem für sie noch unbekannten Säkulum erwartet haben.

Sie haben viel und vielerlei erwartet, von ganz verschiedenen Positionen her und aus ganz verschiedenen Gesinnungen: Der marxistische Arbeiter erwartete, erhoffte die Diktatur des Proletariats und die Weltrevolution.

Der Konservative befürchtete eben dasselbe – als das Ende der bürgerlichen Kultur, als das Ende auch der Religion. Er setzte auf die beharrenden Kräfte in den Völkern, er hielt die Verklammerung in alten Formen für das einzige Heil. –

Der deutsche Nationalist erwartete das weitere Erstarken des Deutschen Reiches, Preußens Gloria und hohenzollernsche Dominanz. Der englische und französische Patriot, sie sonnten sich im Besitz der Weltmacht. Dem Briten lag ein gewaltiges Kolonialreich zu Füßen, dem Franzosen ein kleineres, immerhin ein vielfaches des eigenen Mutterlandes. Der Russe hoffte auf vernünftige Reformen durch den Zaren -–und der Österreicher hoffte darauf, daß es seinem alt und schon etwas klapprig gewordenen Souverän, dem Kaiser Franz Josef, gelingen würde, mit seiner nächsten Verfassungsreform mehr Glück zu haben als mit dem Halbdutzend früherer, und mit seinen Tschechen, Ungarn, Kroaten, Slowenen, Polen, Ruthenen, Italienern und dazu noch mit seinen aufmüpfigen Wienern endlich zu einem erträglichen Konsens zu gelangen.

Das waren politische Hoffnungen.

Darüberhinaus gab es natürlich noch eine Unzahl anderer Hoffnungsziele. Ärzte und Hygieniker hofften, es werde möglich sein, Tuberkulose und Kinderkrankheiten soweit zu bekämpfen, daß das durchschnittliche Lebensalter des Menschen auf mehr als 50 Jahre angehoben werden könnte. Die Techniker hofften, es werde möglich sein, Kraftfahrzeuge zu bauen, die die Dauerleistung von 60 km/h erreichten. Und Total-Verrückte hatten sich dem Flugzeugbau verschrieben und behaupteten, es werde eines Tages möglich sein, von München bis Stuttgart in einem durchzufliegen.

Die Männerwelt hoffte, die Frauen würden ihren Emanzipationsbestrebungen entsagen und endlich aufhören, nach Studium und Beruf zu drängen; und die Künstler: es werde ihnen im neuen Jahrhundert so manche Freiheit erlaubt werden, z.B. eine ausführliche Liebesszene auf die Bühne zu bringen. Und ausgepichte Menschheitsfreunde und Optimisten hofften, es werde gelingen, soviel europäische Kultur in der Welt zu verbreiten, daß auch der schwärzeste Negerstamm in die Geheimnisse des ABC eindringen und dazu gebracht würde, seine Blößen mit Kattun zu bedecken.

Und daneben flackerten selbstverständlich noch Millionen kleiner Wünsche und Hoffnungen auf, und allem zu Grunde lag die feste Erwartung, Europa werde auch am Ende des Jahrhunderts die Zentralmacht des Erdballs darstellen und jedermann werde hier im sicheren Besitz von Heimat, Recht und Kultur sein.

So sehen wir schon Anfang des Jahrhunderts ein seltsames Nebeneinander von Optimismus und Pessimismus, Utopien und apokalyptischen Endzeitvisionen: phantastische Paradiesesbilder mit ebenso phantastischen Höllenbildern vermischt und, so merkwürdig das klingen mag, miteinander nicht nur im Wettkampf, sondern einander gegenseitig erhöhend, befruchtend und potenzierend.

Nun, das war die Zeit unserer Väter, Groß- und Urgroßväter, vor denen das 20. Jahrhundert als dunkles Neuland lag, beängstigend und verlockend zugleich...Wir haben dieses Jahrhundert erlebt, noch nicht das ganze, immerhin, wir können Bilanz ziehen, und was zeigt sich da? Wir können sagen, alles war anders als erwartet. Alles, was kam, kam aus einer anderen Ecke als vermutet. Keine menschliche Voraussicht hatte weiter als eine Nase weit gesehen und, wo sich irgendwelche Prognosen erfüllten, erfüllten sie sich doch durch ganz andere Umstände, in anderen Räumen, unter anderen Leitbildern. Als Beispiel sei hier der Oberprophet, die wissenschaftliche Wahrsagerkoryphäe, genannt, Karl Marx, der nichts für unmöglicher gehalten hatte, als daß eine kommunistische Revolution in einem Agrarland wie Rußland ausbrechen könnte. Prompt trat das ein und wiederholte sich in den Agrarländern China, Kuba und Vietnam.

Der Konservative, der in satter Vorkriegszeit auf die beharrlichen Kräfte der Geschichte gebaut hatte, er mußte erleben, daß Staatsformen auswechselbar sind. Throne und Dynastien verschwanden. Auch das Bild der Stände und Klassen setzte sich in Bewegung. Das Bild des durch 50stündige Arbeit ausgemergelten Proletariers verschwand und machte dem Bild des Kleinbürgers Platz, der Probleme mit seinem Gewicht hat und im eigenen Wagen auf Urlaub fährt. Der Stand, den man seit jeher für das Fundament der Gesellschaft gehalten hatte, der Bauernstand, schmolz ab auf einen Bruchteil seines ehemaligen Bestandes. Die großen Kolonialreiche sanken dahin, Österreich zerfiel, aber am schwersten wurde wohl der deutsche Nationalist getroffen. Sein Reich ist annuliert, Preußen zerschlagen, der deutsche Siedlungsraum um ein Viertel reduziert und Rest-Deutschland in zwei Staaten zerfallen, die überdies noch verschiedenen Systemen angehören und nicht einmal normale Beziehungen zueinander unterhalten dürfen.

So haben wir wohl eine ganze Straße von Trümmerhaufen abzuschreiten, eine Straße fehlgegangener Hoffnungen. Auf der anderen Seite sehen wir eine geradezu tropisch wuchernde Plantage erfüllter, nein, nicht nur erfüllter, sondern überfüllter Hoffnungen: der Arzt, der 1900 davon träumte, daß sich das Lebensalter durchschnittlich auf 50 Jahre erhöhen ließe, stünde heute erstaunt vor den Scharen der 70-, 80-, ja 90-Jährigen, die, gar nicht greisenhaft, sondern putzmunter durch die Gegend karriolen. Der Ingenieur, der mühsam an seiner Kraftfahrmaschine gebastelt hat, würde sich angesichts unserer Autobahnen oder gar der Formel-1-Rennen die Augen reiben. Der Luftschiffträumer von ehedem, oft als Narr gescholten, ich möchte ihn mir vorstellen auf einem großen Flughafen beim Start und beim Landen der großen Supervögel. Und was den Künstler betrifft und sein Lechzen nach mehr Freiheit damals, ihm bliebe in unseren Theatern, Museen, Filmstudios und Konzertsälen höchstwahrscheinlich der Atem stehen und das letzte Tröpfchen Spucke weg.

Oh ja, Hoffnungen haben sich erfüllt und überfüllt und keineswegs punktuell, sondern viele über die ganze Oberfläche unseres Erdballs hinweg bis in die abgelegensten Winkel.

Und daß der Mensch inzwischen auch den Mond betrat, erinnere ich nur am Rande. Es scheint heute beinahe schon wie ein zwar kostspieliger, aber kindlich simpler Demonstrationsakt.

Ein herrliches, ein großartiges Jahrhundert, nicht wahr? Wir alle sind seine Nutznießer, und wir wollen es nicht gering schätzen, daß jeder von uns, aber wirklich jeder, weit komfortabler und schmerzfreier lebt, wie etwa der deutsche Kaiser im Mittelalter. Wir brauchen weniger zu frieren, als er damals fror in seinen eisigen Kaiserpfalzen. Wir haben weniger Zahnschmerzen, wir reisen unvergleichlich bequemer, als er reiste auf hartem Sattel, auf löchrigen Karrenwegen. Ja selbst unsere Wäsche versorgt uns noch mit Streicheleinheiten, während die seine wundkratzte und scheuerte, von mangelhafter Reinlichkeit ganz abgesehen. Noch höher haben wir es uns zu schätzen, daß wir nicht fürchten müssen, unsere Kinder zu verlieren bei Masern, Keuchhusten, Scharlach. Früher sind die Kleinen in Scharen dahingestorben. Die Pest ist ausgerottet, es gibt keine Flöhe mehr, die ganze Qual mit dem Ungeziefer ist uns gespart. Mit einem Knopfdruck machen wir die Nacht zum Tag, mit einem Knopfdruck holen wir die herrlichste Musik von den großartigsten Interpreten. Dazu im Winter das köstlichste Frischgemüse, wo unsere Vorfahren um einen Schlag Sauerkraut froh gwesen sind. Wir haben Rosen im Dezember, Gletscherskifahrt im August und Solarienbräune zu Weihnachten.

Was, meine Damen und Herren, steht uns eigentlich nicht zur Verfügung? Aber seltsam! In dieser wohlgepolsterten, unseren Wünschen so gefügigen Welt ist uns so wohl nicht zumute. Ängste wuchern und Mißtrauen gegen alles, was der Mensch tut, was er anstrebt, bekennt, ja oft selbst was der Mensch ist. Früher hieß es, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Das kostet uns heute nur noch ein bitteres Lachen. Und wenn wir an das nächste, das 21. Jahrhundert denken, läuft es uns allen kalt über den Rücken, und wir leiten jede Erörterung der Zukunft mit der ängstlichen Hypothese ein: “Falls es uns dann noch gibt...” Was brauche ich Ihnen die Schreckensvisionen zu nennen, die allenthalben im Umlauf sind? Der globale Krieg, die totale Verwüstung unseres “Raumschiffs Erde”...

Wir sind versorgt mit Vorstellungen dieser Art: Tod der Wälder, Tod der Meere; versorgt sind wir mit weiteren Greuelvisionen: Überhandnehmen unserer Gattung bis zum Chaos, und so fort.

In einem ersten summarischen Überblick versuchte ich Ihnen zu zeigen: Unser Jahrhundert hat sich – auf der einen Seite schwanger an Utopien und Hoffnungsbildern, auf der anderen getränkt mit Schreckensvisionen – in zwei Tendenzen ganz charakteristisch geoffenbart. Die eine Tendenz ist die Akzeleration, die Beschleunigung der Prozesse, die zweite Tendenz ist die Manipulation des Menschen durch den Menschen, die wirkliche oder scheinbare Machbarkeit der Welt.

 

Zu Punkt 1: Akzeleration:

Das wissen wir, und das weiß jedes Kind: wir sind schneller geworden als die Menschheit je gewesen ist, durch Autos, Flugzeuge, Eisenbahnen, Telefone, Fernschreiber, Computer. Wir sind rascher informiert, wir sind auch rascher geheilt, wenn wir zu heilen sind. Das Penizillin und tausend andere Medikamente erlösen uns von den Erlebnissen und Beschwerlichkeiten eines langen Krankenlagers.

Die Ungeduld dem eigenen Körper gegenüber entspricht der Ungeduld in anderen Bereichen. Heute werden Kinder und junge Leute in Dinge eingeweiht, die man früher vor ihnen lange unter Verschluß gehalten hat. Sie pubertieren schneller, die Natur scheint unsere Akzelerationtendenz noch zu unterstützen. Schneller setzen sich die Generationen auch voneinander ab.

Ein Bereich wirksamer Beschleunigung ist im Austausch wissenschaftlicher Kenntnisse zu suchen. In früheren Zeiten brauchte jede, auch die wichtigste Erkenntnis des menschlichen Geistes Jahre und Jahrzehnte, um über den engsten Kreis hinauszusickern. Heute sorgen wissenschaftliche Zeitschriften, Bänder und Mikrofilme dafür, daß Erfindungen auf den Gebieten der Technik, der Chemie, der Biologie so schnell wie möglich an alle Interessierten herangebracht werden. Unser Wissen verdoppelt sich alle fünf Jahre, also in geometrischer Reihe, und wird damit in den Stand gesetzt, immer mehr Macht und Machbarkeit zu produzieren.

Es ist nur begreiflich, daß uns manchmal das Grausen packt. Wir möchten Bremsen anziehen, aber meist nur beim Nebenmann. Wer hat denn schon den Mut und die heroische Konsequenz, vom Zug abzuspringen, bloß weil vielleicht hinter der nächsten Kurve der Abgrund gähnt?

Soviel über die akzelerierende Tendenz.

 

Das zweite sich aufdrängende Charakteristikum unseres Jahrhunderts ist die Manipulation, also Herrschaft von Menschen über Menschen in Ausmaßen, die früher unbekannt waren. Die Manipulationen haben viele Formen. Die vier verhängnisvollsten sind: Inflation, Krieg, Vertreibung; die letzte nicht mehr zu überbietende Stufe, der Genozid.

Meine Damen und Herren, man hat mich gebeten, zum Thema der Vertreibung hier und heute genau Stellung zu nehmen, d. h. den Stellenwert anzuschneiden, den diese Aktionen innerhalb der Katastrophen unseres Jahrhunderts eingenommen haben und weiterhin einnehmen. Viele von Ihnen haben selbst Vertreibung erlebt und aufs bitterste erfahren. Sie werden nicht erwarten, daß ich hier auf die Greuel eingehe, die sich dabei ereigneten und die zwar dokumentiert, aber vom Bewußtsein der Welt noch immer viel zu wenig rezipiert worden sind.

Sie werden mir erlauben, daß ich auch hier als Historikerin verfahre und auch die von Ihnen erlebte Vertreibung in einen allgemeineren historischen Hintergrund stelle.

Vertreibung, Verschleppung, Verpflanzung von Menschenmassen haben in der Geschichte eine alte Tradition. Schon im Alten Testament ist dokumentiert, daß die Juden nach Babylon verschleppt wurden. In unserer abendländischen Geschichte ist als unrühmliches Beispiel der Sklavenhandel zu nennen: Menschjagd und Menschverfrachtung aus dem schwarzen Afrika. Im 17. Jahrhundert ließ Ludwig XIV. die Rheinpfälzer vertreiben, da er für seine Ostgrenze ein menschenleeres Glacis wünschte. Am Anfang unseres Jahrhunderts verjagten die Türken ihre armenischen Minderheiten unter Grausamkeit und Morden. In großen Schüben brachte das Zarenreich seine unliebsamen Elemente über den Ural; nur so war die allmähliche Durchsiedlung der sibirischen Weiten möglich.

Sie merken: der Aufzählung wäre kein Ende!

Nun aber in unsere, die jüngere Zeit.

Mit Ausbruch des letzten Weltkrieges gewinnt der Gedanke, ganze Volksgruppen zu verschieben, erst richtig Raum. Man nennt das zuerst “Heimholung”, “Heimholung ins Reich”. Heimgeholt wurden z.B. die Wolhynien-Deutschen, nachdem ein Teil Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion gefallen war. Heimgeholt werden sollten die Bukowina-Deutschen 1940, obwohl in jener Zeit noch keine Gefährdung für sie abzusehen war.

Leerpumpen von Deutschen wollte man auch Südtirol, dem faschistischen Bundesgenossen zuliebe. Eine Volksabstimmung wurde abgehalten und ergab sogar eine überwältigende Mehrheit für die Abwanderung. In der Praxis verzögerte sich dann zum Glück die Loslösung von der alten Heimat; immerhin strömten damals Tausende und Abertausende über die Brennergrenze nordwärts. Nicht wenige wurden auch im Osten angesiedelt, mit welchen Folgen, kann man sich ausmalen.

Warum nenne ich diese Beispiele?

Nun, wir sehen hier den diktatorischen Staat mit Beheimatung und Heimatrecht handeln wie mit disponibler Ware.

Noch prätendierten diese Manipulationen darauf, daß sie zugunsten der Betroffenen ausgeübt würden.

Ein anderes, furchtbares Gesicht zeigten sie aber sogenannten artfremden Gruppen gegenüber. Das polnische Volk wurde im Generalgouvernement konzentriert. Und dann – Zigeuner und Juden! Aus allen besetzten Gebieten wurden sie abgeholt, in Vernichtungslager gebracht. Eine Manipulation katastrophalen Ausmaßes. Katastrophal freilich nicht allein für die Opfer, sondern auch für die, - wie soll ich sie nennen? – für die Manipulanten. Waren es damals auch nur verhältnismäßig wenige, Ausgesiebte aus der Masse des deutschen Volkes, die hier hinter schirmenden Mauern, Mauern des Schweigens, manipulierten: Ihre Schrecktaten wurden, wie uns seit 40 Jahren täglich vorgeführt wird, dem ganzen deutschen Volk angelastet, und noch unsere Enkel werden darunter zu leiden haben.

Aber das Verhängnis schritt fort. Das Maß des europäischen Unglücks war noch lange nicht ausgeschöpft. Noch war 1945 nicht einmal das letzte Gittertor des letzten befreiten KZs geöffnet, noch war das Halleluja der Siegesfeier nicht angestimmt und die Botschaft in die Welt hinausgeschmettert, daß diesmal das Gute gesiegt habe, “das Gute ein für allemal”, da schlug für Millionen Menschen schon wieder die Stunde des Entsetzens. Rache hatte man ja erwartet. Mit punktuellen Rachetaten war gerechnet worden, hatte man rechnen müssen. Aber was nun geschah, überstieg doch alle Voraussicht. Man verkündete Staatsgrundgesetze (wie in der Tschechoslowakei), die die Strukturen des Landes von Grund auf verändern sollten. Alle Deutschen sollten das Land verlassen, ihr Eigentum verfiel dem Staat. Der gesunde Menschenverstand hätte ein solches Vorgehen für undurchführbar halten müssen, für absurd! – schon aus fiskalischen Gründen. Aber die Würfel waren längst gefallen. Ein Amerikaner, ein Halbasiate und ein Brite hatten in Jalta ihr Spiel gespielt, wobei der Amerikaner nicht wußte, worum es ging, der Halbasiate nur zu genau wußte, was er wollte, und der Brite, selbst in bedrängter Lage, gegenzusteuern kaum imstande war.

Das Fell des Bären war am grünen Tisch verteilt, zu ungleichen Teilen. Daß man des Bären habhaft werden würde, war kaum noch zweifelhaft. Im Mai 1945 konnte dann das Schlachtfest beginnen. Daß man dabei auch ein  Stück Europa schlachtete, wurde nicht bedacht. Zu viele redeten sich ein, nur Schuldige zu strafen, und entzogen dabei den eigenen historischen Strukturen den Boden unter den Füßen.

Was meine ich damit?

Ich meine damit etwas durchaus anderes als eine hübsche Floskel. Ich meine damit das Gewordensein dieser Länder, ihren Charakter, ihre Struktur, ihr Gebundensein an die zentral-, an die westeuropäischen Kultur.

Hier darf ich ein wenig ausholen:

Seit jeher haben den weiten Raum zwischen Fichtelgebirge und dem Schwarzen Meer, zwischen der Ostsee und dem nördlichen Karst die verschiedensten Völker in bunter Gemengelage bewohnt: Magyaren, Deutsche, Romanen, vor allem aber Slawen, die große Gruppe der Westslawen, Polen, Ruthenen, Weißrussen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben und noch andere kleinere Stämme und Splittergruppen. Die Geschichte dieser Völker ist dominiert von einer Tatsache: Während die deutschen Stämme zu einem Volk verschmolzen, während sich in Frankreich eine Staatsnation bildete, während auch in Spanien und Britannien übergeordnete sprachliche und politische Strukturen entstanden, haben sich die Westslawen nie zu einem Staatsgebilde, nie zu einem Volk oder auch nur zu einer umfassenden Sprachgemeinschaft zusammengefunden. Sie blieben in partikularistischer Vereinzelung, sprachlich stark unterschieden, ethnisch wie politisch different.

Der Grund hiefür?

Strebten sie die Einheit gar nicht an? Oder waren die Voraussetzungen zu ungünstig?

Lag das Siedlungsgebiet der Magyaren als Scheide zwischen ihnen? Oder lag es an den geographischen Voraussetzungen, an den paßarmen Karpaten etwa?

Wie auch immer – die Westslawen konnten auf diese Weise nie zu einer eigenständigen politischen Rolle gelangen. Nur zu oft waren sie untereinander verfeindet oder gehörten unterschiedlichen politischen Bündnissystemen an. Sie wurden damit zum Operationsfeld der größeren angrenzenden Systeme; ist es doch ein unumstößliches Gesetz in der Geschichte, daß dort, wo eigene einigende Willensbildung fehlt, fremder Wille und Fremdbestimmungen hereinstoßen.

Da waren etwa die Türken, die den Balkan jahrhundertelang dominierten. Da waren die Schweden, die gleichfalls nach Oberherrschaft strebten. Da war der Riese Rußland im Osten – und da war, selbstverständlich, auch Deutschland, das, bei aller inneren Uneinigkeit, doch als großer Block wirkte und seinen Einfluß ausübte. Es setzte sich nicht so sehr durch militärische Interventionen als dadurch ins Bild, daß es das Städtewesen und den Bergbau implantierte. Auch das Christentum war in weite Teile des westslawischen Raumes aus Deutschland, aus Magdeburg, Salzburg, Passau gekommen. So entstand eine Zone kultureller und politischer Zusammenarbeit, eine Zone kulturellen und politischen Aufeinanderangewiesenseins. Nennen wir diese Zone Mitteleuropa!

Dieses Mitteleuropa, das dürfen wir nie vergessen, war ein schon immer hochgefährdeter Raum. Denn, abgesehen von der hier sozusagen hausgemachten konfliktbeladenen Problematik drückten schon immer aus der Tiefe des eurasischen Kontinents fremde Mächte herein: die Wandervölker der Hunnen, Awaren, Magyaren (sie konnten seßhaft gemacht werden); im 13. Jahrhundert Mongolen, ab 1500 die Türken. Alle diese Völker bewegten sich im großen Westtrend auf Zentraleuropa zu, im Streben danach, in reiche Kulturlandschaften einzudringen, sie in Besitz zu nehmen und für sich zu nutzen. Dieser Trend bildete eine eminente Gefährdung. Ihm mußte widerstanden werden.

Doch wer hätte ihm Widerstand leisten können, wenn nicht die hier siedelnden Völker – Westslawen, Deutsche, Magyaren, Romanen? Sie verteidigten sich und verteidigten damit nicht nur ihre Vaterländer, sondern das ganze Abendland. Als abendländische Mitteleuropäer handelten die Deutschen Ritter bei Liegnitz 1241, als sie sich zusammen mit Polen und Schlesiern dem Mongolensturm stellten. In derselben Gesinnung handelte der christliche Polenkönig Sobieski, als er Wien von den Türken entsetzte. Abendländisch-mitteleuropäische Konzepte standen hinter den Erbverträgen der Habsburger und den Jagellonen und den Piasten, und als Mitteleuropäerin, im vollen Bewußtsein der Besonderheit dieses Raumes, verfuhr Maria Theresia, als sie die allgemeine Schulpflicht in ihren Kronländern einführte und darauf verzichtete, die deutsche Unterrichtssprache von oben herab zu dekretieren. Sie wollte den Eigenwuchs ihrer Völker nicht zerstören.

Überhaupt meine ich, daß das Habsburgerreich samt allen seinen Fehlern doch der klassische mitteleuropäische Versuch war, der bunten Gemengelage der Stämme und Nationen gerecht zu werden und sie kooperativ zu integrieren. Natürlich waren dabei Reibereien und Konflikte, Bitternisse und Eifersucht unvermeidlich. Doch wie belebend war auch wieder das sich unaufhörlich Aneinandermessen! So profilierten sich die Nationen, und so entstand ein Klima intensiven Kulturbewußtseins.

Zweifellos war das Deutschtum als Exponent einer großen geeinten Nation in diesem Raum von überragendem Einfluß. Man hat ihm das oft genug zum Vorwurf gemacht. Doch hat es keineswegs nur deutsche oder gar nur deutsch-tümelnde Kultur vermittelt. Vermittelt wurde vielmehr vielfach Westkultur. Denn nicht nur was in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England, Holland erdacht, erfunden, geschaffen wurde, das sickerte durch deutsche Kanäle in den Osten ein. Die Idee der nationalen Identität, die Idee persönlicher Freiheit, Demokratie, Sozialismus, Rechtsstaatlichkeit, sie wanderten in diesen Raum vorzüglich durch deutsche Medien ein.

Das aufstrebende Bürgertum der Westslawen, auch der Ungarn und Rumänen, hat sich vor allem im vorigen Jahrhundert immer deutlicher mitteleuropäisch, ja, ich möchte sagen, am liebsten westeuropäisch deklariert. Deutlich weist darauf hin die Architektur; wer Budapest und Bukarest besucht, findet dort beileibe nicht nur die Ringstraße von Wien kopiert, sondern unzählige französische, englische und holländische Muster. Das Parlament in Budapest ist wie von der Themse und die Oper in Bukarest wie von der Seine importiert. Wie gerne haben die Tschechen den Wenzelsplatz in Prag die Champs-Elysées ihrer Hauptstadt nennen gehört!

Aus Amerika reiste Massaryk an, um 1919 die Präsidentschaft seines neugegründeten Staates zu übernehmen. So kam es auch zu den Militärbündnissen der Zwischenkriegszeit, zu der kleinen Entente, in der sich die Westslawen so eng wie möglich mit Frankreich verbünden wollten. Noch beim Einmarsch der sowjetischen Armee 1945 hoffte die tschechische, polnische, ungarische bürgerliche Klasse auf eine hilfreiche Hand aus dem atlantischen Raum. Mit der Vertreibung der Deutschen, so mochten sie meinen, würde ihnen ein Freibrief für demokratische Verfassung ausgestellt werden. Wie groß war ihr Irrtum! Auch sie waren in Jalta zur Konkursmasse des alten Europa geworfen worden.

Das siegreiche Rußland meldete seine Rechte an und hat sie bis zum heutigen Tag konsequent wahrgenommen. Der ungarische Aufstand, der Prager Frühling, die Solidarność, was waren sie anderes als euphorische Demonstrationen der Zugehörigkeit dieser Völker zu Zentraleuropa, zu Westeuropa (ein letztes kümmerliches Signal dieser Westtendenz ist heute etwa die Tatsache, daß Baugründe in der ČSSR um ein Mehrfaches teurer gehandelt werden, wenn man dort Westfernsehen empfangen kann)?

Zweifellos fühlen sich die Westslawen davon irritiert, daß sie von einem Zentrum aus dirigiert, gezügelt und fallweise diszipliniert werden sollen, das, zwar in Europa gelegen, doch nicht mehr von nur europäischen Interessen bestimmt wird. Immer wichtiger wird im sowjetischen Bereich die asiatische Komponente. Natürlich sind die Russen diesseits des Urals Europäer. Das haben sie, wenn nicht durch etwas anderes, so durch ihre grandiose Literatur bewiesen. Doch ihr Imperium verwandelt sich. Der islamische, der mongolische Bevölkerungsanteil wächst, das asiatische Element nimmt zu, so wie das farbige Element in Amerika zunimmt. Wir sind übereingekommen, uns darüber keine Sorgen zu machen. Die Westslawen aber machen sich Sorgen, sie bangen um ihre europäische Zukunft.

Nun aber das Schicksal der Vertriebenen: Die Aussiedlung erfolgte 1945 unter schweren Exzessen. Es war ganz deutlich, daß auch hier Völkermord geplant war oder doch geduldet wurde. Hunderttausende ließen dabei ihr Leben. Dennoch: Millionen erreichten die rettende Grenze. Aber was hatten sie denn damals hinter dieser Grenze zu erwarten? Das Land, in das sie ausgetrieben wurden, lag selbst darnieder; es hungerte, seine Städte waren zum größten Teil zerstört. Nun strömten gleichfalls hungernde und aller Hilfsmittel entblößte Menschenmillionen herein. Was sollte aus ihnen werden?

Nun geschah etwas wie ein Wunder. Nach Monaten, nach Jahren bitterster Armut gelang es den Vertriebenen, allmählich Fuß zu fassen. Aber ihr Lebenswille hätte scheitern müssen, wenn bei den deutschen Behörden, bei den deutschen Regierungen, sofern sie sich damals schon als Regierungen konstituieren konnten, wenn da nicht der ernstliche Wille geherrscht hätte, das Unmögliche möglich zu machen und die Millionenmassen der Vertriebenen in das eigene Land zu integrieren.

Nichts hat den absoluten Friedenswillen des deutschen Volkes deutlicher machen und vollkommener beweisen können, als diese große, unvergleichliche Friedenstat.

Man hätte, das darf ich hier einschalten, auch ganz anders verfahren können. Denken wir an das Beispiel der Palästinenser, die gleichfalls vertrieben worden sind. Doch niemand dachte daran, sie in neuen Heimaten anzusiedeln. Man faßte sie in Lagern, in öden Gegenden, zusammen und behielt sie als Pfänder des Hasses und der Rache unter Verschluß.

Nichts davon ist in Deutschland geschehen. Sicher hatte Stalin damit gerechnet, daß sich die Vertriebenen in ihrer Not dem Kommunismus zuwenden, dass sie in der Gesellschaft der Bundesrepublik als revolutionärer Sprengsatz wirken würden.

Das Gegenteil davon trat ein. Die Vertriebenen wurden zur festen Säule einer konservativ realistischen Politik, und sie wurden zu einem Vitalschub für die Freie und auch für die Soziale Marktwirtschaft.

Wieder einmal hatten sich die Rechner verrechnet, und alles war anders gekommen. Langsam erkennt der Mensch, daß seine eigenen Manipulationen sehr häufig andere Ergebnisse zeitigen, als er selbst angestrebt hat. Die Machbarkeit der Welt nach unseren Plänen, Wünschen und Tricks erweist sich immer mehr als illusorisch. Noch jüngst waren wir begeisterte Anhänger fortschreitender Zivilisation, heute haben wir gelernt, die von dieser Zivilisation gefährdete, klein gewordene Erde mit Bangen zu betrachten. Mit ängstlichen Gefühlen schauen wir nach den Wipfeln unserer Wälder, ob sie nicht schon verdorren. Noch sind wir von der Überfülle unserer Ernten bedrängt, aber schon warnen uns die Wissenschaftler vor dem biologischen Tod unserer mit Chemikalien übersättigten Ackererde. Noch vor zehn Jahren rang die Wirtschaft mit dem Mangel an Arbeitskräften, heute erschreckt uns die Zahl der Arbeitslosen und, obwohl wir wissen, daß die moderne Elektronik immer mehr Menschenkraft, immer mehr Menschenentscheidung und Menschenüberlegung außer Kraft setzen wird, bauen wir weiter an Computern, immer kleineren, immer effektiveren der 4., 5., der 6. Generation.

Ein irrationales, ein wahnsinniges Jahrhundert! Irrational durch das Überborden der Ratio, wahnsinnig durch das geometrische Wachstum manipulatorischer Planung?

Immerhin haben wir doch eines gelernt, und diese Erkenntnis setzt sich durch: Wir leben in einem vernetzten System. In einem System, in dem kaum ein Faden gezogen, kaum eine Masche gelöst werden kann, ohne daß die Folgen das Ganze beeinflussen. Dieses Wissen, ein uraltes Wissen übrigens, eine uralte Weisheit, ist unserem Jahrhundert von Naturwissenschaftlern neu entdeckt worden. Man hat erkannt, daß keine Tierart aussterben kann, ohne daß das biologische Gleichgewicht weit verrückt wird. Wir merken, daß Eingriffe in den Haushalt der Natur, aber auch in das soziale Leben Fernwirkungen haben können, über Kontinente weg und in eine noch gar nicht auslotbare Zukunft hinein.

Uns ist nach langen Irrtümern endlich aufgegangen, daß die europäisch-atlantische Zivilisation in das heikel ausgewogene Netzwerk der Natur mit überdimensionalen Gewaltakten hineingefahren ist, wie der sprichwörtliche Elefant in den Porzellanladen. Sie hat schreckliche Verheerungen angerichtet mit ihren Manipulationen und mit einem Teil ihrer Utopien, mit dem Teil nämlich, der jedermann alles versprochen hat, ohne danach zu fragen, was dieses alles kosten kann.

Nicht zuletzt haben wir mit der Utopie moralischer Ungebundenheit gegen uns selbst gesündigt. Weil wir unsere Umwelt radikal verändert haben, so glaubten wir auch uns und unsere Verhaltensweisen radikal verändern zu können und sollen, ja sogar zu müssen. Auf dem Gebiet der sexuellen Moral, auf dem Gebiet der sogenannten Selbstverwirklichung sind wir unerprobte, eindimensionale Wege gegangen, ohne Rücksicht auf Folgeerscheinungen, ohne Rücksicht auf die Verletzbarkeit, in der sich die menschliche Natur, die menschliche Psyche bis jetzt entwickelt hat. So erblicken wir rund um uns nicht nur kranken Wald, sondern auch kranke Familien. Wir sehen nicht nur unsere Flüsse vergiftet, sondern auch Vergiftung der Seelen mit Überdruß, Ekel, nihilistischer Weltmüdigkeit. Die Selbstmordrate steigt, auch die Kinderselbstmorde nehmen zu, ein Zeichen, das uns aufrütteln müßte.

Über allen Forderungen aber steht, selbstverständlich, die eine große, unausweichliche Forderung, Frieden zu bewahren. Es gibt keinen Streitpunkt in der Welt, der verantworten ließe, das Inferno eines großen Krieges zu entfesseln. Die Menschheit hat die Verantwortung für ihren Fortbestand übernommen. Dieser Fortbestand findet seit mehr als drei Jahrzehnten als hochgefährdeter Balanceakt statt; es ist unsere Chance, daß beide Partner wissen, daß auch für jeden von ihnen in jedem Fall alles auf dem Spiel steht.

Hier ende ich. Unser Jahrhundert, dieses mit Hoffen und Bangen erwartete 20. Jahrhundert, hat sich als strenger Lehrmeister erwiesen. Es hat uns mit Katastrophen fürchterliche Lektionen erteilt, es hat uns vor Hybris und Hochmut nachdrücklicher gewarnt als jede frühere Zeit; es hat uns weite, berauschend weite Horizonte eröffnet und uns doch wieder auf die Methode der kleinen Schritte zurückverwiesen. Es hat uns gezeigt, daß Gottes Welt nicht so einfach ist, wie wir sie uns als Spielzeug kindisch erträumten. Es hat uns damit eine neue Dimension der Einsicht eröffnet.

Das ist unsere größte Chance.

 

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